Deportationen der Juden aus Zentraleuropa nach Riga während des Holocausts

Über die Deportationen

Deportationsziel Riga

Vom November 1941 bis zum Winter 1942 wurden insgesamt 25.000 Juden aus dem Großdeutschen Reich nach Riga deportiert, davon 4200 aus Österreich. Warum wurden diese ausgerechnet in die lettische Hauptstadt verschleppt? Eine definitive Antwort kann hier nicht gegeben werden. Hitler gab im September 1941 die Genehmigung zur Deportation deutscher Juden. Obwohl die Vertreibung der Juden aus dem Altreich schon lange Ziel der nationalsozialistischen Führung war, gab es zu diesem Zeitpunkt keinerlei Klarheit, wie dies bewerkstelligt werden soll. Die ersten Transporte sollten nach Litzmannstadt, dem bisher einzigen Großghetto des Deutschen Reiches, erfolgen. Dieses war jedoch bereits hoffnungslos überfüllt und die Stadtverwaltung weigerte sich weitere 60.000 Juden aufzunehmen. Die Zahl musste auf 20.000 reduziert werden. Heydrich und Himmler mussten sich daher um andere Deportationsziele bemühen und entschieden sich für Minsk und Riga.

Riga hatte bisweilen keinerlei Aufnahmemöglichkeiten für solch eine große Anzahl von Menschen, obwohl der Befehlshaber der Einsatzgruppe A, Dr. Franz Walter Stahlecker, eine mögliche Aufnahme zusicherte. Der Höhere SS und Polizeiführer Ostlands, Friedrich Jeckeln, ordnete daraufhin die Räumung des Rigaer Ghettos an. Von den dort lebenden lettischen Juden wurden Ende November und Anfang Dezember mehr als 25 000 im Wald von Rumbula erschossen. Da ein Zug aus Berlin zu früh in Riga angekommen war, wurden deren Passagiere ebenso im Wald erschossen.

Die Deportationen

Adolf Eichmann schuf in Berlin die organisatorischen Vorraussetzungen für die Deportationen. Das Eichmann-Referat entwarf Richtlinien zur technischen Durchführung der “Evakuierung” von Juden. Der Aufgabenbereich für die örtliche Gestapo war “die Konzentrierung und personelle Erfassung des zu evakuierenden Personenkreises, der Abtransport mit Sonderzug und die Regelung der vermögensrechtlichen Fragen”.

Zum Transport mussten Juden 50 Reichsmark mitnehmen. Wenn diese die Summe nicht auftreiben konnten, musste die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland das Geld vorschießen. Ein Koffer mit einem Gewicht von bis zu 50 Kilogramm durfte mitgenommen werden. Vollständige Bekleidung, ordentliches Schuhwerk und Bettzeug war mitzunehmen. Es wurde aufgerufen, Haushaltsgegenstände wie Geschirr, Nähmaschinen oder Werkzeug mitzunehmen. Diese Anweisungen gaukelten den Betroffenen vor zur “Aufbauarbeit” gebraucht zu werden. Die Deportierten sahen ihr Gepäck nie wieder.

Ebenso mussten die zur Deportation vorgesehenen Personen in einem Fragebogen ihr gesamtes Vermögen vermerken, welches vom Deutschen Reich beschlagnahmt wurde. Mit der 11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 25. November 1941 wurde der Raub des Vermögens vollendet. Juden verloren ihre Staatsbürgerschaft, damit sich der Staat gänzlich ihres Vermögens bemächtigen konnte. Den Verlust ihrer Staatsbürgerschaft mussten die auf die Deportation Wartenden selbst unterschreiben.
Jeder Transportzug hat eine eigene Geschichte, es gab allerdings zwei Probleme in allen Transporten. Das war zum einen die fehlende Versorgung mit Wasser und zum anderen die eisige Kälte. Oft fiel die schwache Heizung gänzlich aus, was bei vielen Passagieren zu Frostschäden an den Gliedmaßen führte.

Die Ankunft in Riga

Am Bahnhof Skirotava wurden die Deportierten von den künftigen Peinigern erwartet. Die frierenden und durstigen Menschen wurden mit Gebrüll und Schlägen aus den Wägen geholt. Schon beim Bilden der Marschkolonnen wurden die ersten Menschen erschossen. Bei eiskaltem, feuchtem Wetter mussten sich die Menschenkolonnen vom Bahnhof zum Ghetto quälen. Kindern, Ältere und Schwache, die diesen mehrere Kilometer langen Fußmarsch über eisglatte Straßen nicht bewältigen konnten, wurden Plätze in Omnibussen angeboten. Diese fuhren nicht ins Ghetto; sie führten die Menschen zu ihren Exekutionsstätten.

Der Anblick, den das Ghetto den Angekommenen bot, war schockierend. Die blutigen Spuren der gewaltsamen Räumung des Ghettos waren überall noch sichtbar. Treppenhäuser waren verwüstet, gefrorene Essensreste lagen auf den Tischen und die Wohnungen waren ausgeplündert.

Die Lager Jungfernhof und Salaspils

Die ersten vier Transporte mit insgesamt 3984 Personen waren für das Lager Riga-Jungfernhof bestimmt. Die Deportierten mussten in desolaten Scheunen und Viehställen unterkommen. Geschätzte 800 Insassen starben in den Wintermonaten an Erfrierungen, Unterernährung oder den rasch ausbreitenden Krankheiten. Neben den katastrophalen Lebensbedingungen mussten die Insassen die Unberechenbarkeit des Lagerkommandanten Rudolf Seck und die willkürlichen Ausschreitungen der lettischen Bewachungskräfte ertragen.

Salaspils war das zweite Lager, in das die jüdische Bevölkerung aus dem Reichsgebiet verschleppt wurde. Junge Männer aus deren Reihen wurden als Arbeitskräfte zum Aufbau des Lagers verpflichtet.  Die ersten Ankömmlinge fanden eine halbfertige Baracke mit undichtem Dach und fehlenden Fenstern auf einer schneebedeckten Wiese vor. Eiseskälte, unzureichende Ernährung sowie fehlende Hygiene bei äußerst harschen Arbeitsbedingungen führten zu einer hohen Sterblichkeit. Wahrscheinlich über 1000 Häftlinge kamen beim Bau des Lagers um. Die wenigen Überlebenden wurden im Sommer 1942 ins Ghetto transferiert. Danach wurde Salaspils als Polizeihaftlager für Letten, Russen und andere “Missliebige” verwendet.

Zwangsarbeit, alltäglicher Terror und das Leben im Ghetto

Ghetto-Kommandant Kurt Krause stellte eine jüdische Selbstverwaltung auf. Von jedem Transport musste ein Ältester gestellt werden. Unter Vorsitz von Max Leiser verkündete dieser Ältestenrat Anordnungen für die Ghetto-Bewohner. Es gab auch eine jüdische Lagerpolizei, die sich unter Anderem um die Einhaltung der nächtlichen Ausgangssperren, die Ordnung im Ghetto oder die Objektbewachung kümmern mussten. Sie waren trotz ihrer Uniformen den lettischen Wachleuten klar untergeordnet. Krankheiten waren eine Häufigkeit im Ghetto. So gab es “Lazarette”, die allerdings in keiner Hinsicht ausreichend ausgestattet waren.

Aus den im Reichsjudenghetto Riga und dem KZ Jungfernhof inhaftierten Deportierten wurden im Frühjahr 1942 die alten und nicht mehr voll arbeitsfähigen Menschen auf Listen erfasst. Angeblich sollten sie in einer Konservenfabrik in Dünamünde leichtere Arbeiten bei guter Verpflegung verrichten. Beim Abtransport aus Riga verbargen sich einige von ihnen; Angehörige anderer baten, nach Dünamünde mitgenommen zu werden. Diese wurden in Autobussen in den Wald von Bikernieki gebracht. Dort wurden sie von lettischen Hilfskräften unter Leitung der deutschen Sicherheitspolizei in Massengräbern erschossen. Geschätzte 5000 Menschen kamen so ums Leben.

Das Überleben der Menschen, die nicht Opfer der Massenerschießungen waren, hing in erster Linie vom Erhalt der Gesundheit ab. Diese hing meist von der „Qualität“ des Arbeitskommandos ab. Aufgrund des Arbeitskräftemangels wurden Juden in allen nur denkbaren Arbeiten eingesetzt. Das Putzen von Wohnungen, das Handwerk in verschiedenen Werkstätten oder Holzarbeit sind nur einige Beispiele. Insgesamt gab es über 600 Arbeitsstellen. Arbeitsstellen unterschieden sich nicht nur in Härte der Arbeitsanforderungen, sondern vor allem auch von der Behandlung am Arbeitsplatz. Für Ghettobewohner stand auf den Besitz von Geld die Todesstrafe. Ihnen wurde kein Lohn ausbezahlt. Firmen, in denen Ghettobewohner arbeiteten, mussten die mickrigen Stundenlöhne an den Gebietskommisar entrichten.

An manchen Arbeitsstätten bestand die Möglichkeit, Tauschgeschäfte abzuwickeln. Obwohl auf Tauschhandel die Todesstrafe stand, reichte die sogenannte „Verpflegung“ ohne dieses Risiko schlicht nicht aus. Wer nicht verhungern wollte, der riskierte Butter, Brot und Kleidung unter den strengen Augen der Torposten vorbeizuschmuggeln. Wenn die Ghettowache jemanden erwischte, wurde dieser geprügelt und zum sadistischen Ghettokommandanten Kurt Krause geschickt. Dieser verurteilte Männern zum Tod durch Erhängen und Frauen wurden von ihm eigenhändig erschossen, oft unter Anwesenheit derer Kinder.

Trotz der schrecklichen und von Unsicherheiten geprägten Atmosphäre etablierte sich nach den Selektionen eine gewisse „Normalität“ im Ghetto. Es gab Schulunterricht, Theateraufführungen oder auch Tanzaufführungen. Manche Ghettobewohner konnten auch im religiösen Leben Kraft finden.

Konzentrationslager Kaiserwald

Himmler entschied am 15. März 1943 ein Konzentrationslager in Riga zu errichten. Dies führte zur phasenweisen Auflösung des Rigaer Ghettos. Diejenigen, die die ersten Jahre überlebten, mussten in zeitlichen Abständen bis November 1943 das Ghetto verlassen und wurden im KZ Kaiserwald oder einer zugehörigen Kasernierung interniert. Über 2000 Ghettobewohner wurden nach Auschwitz deportiert.

Die Bedingungen im KZ Kaiserwald waren deutlich schlechter als im Ghetto zuvor. Es gab eine strikte Trennung von Männern und Frauen, stundenlange Appelle und Schwerstarbeit standen an der Tagesordnung und die Willkür der sadistischen Kapos und SS musste täglich ertragen werden. In den Lagern gab es in unregelmäßigen Abständen Selektionen, bei denen Dr. Eduard Krebsbach arbeitsunfähig scheinende Personen in den Tod schickte. Besonders grausam war der 28. April 1944, an dem alle Kinder zur Erschießung weggeschleppt wurden. Mit der Annäherung der Front 1944 intensivierten sich die Selektionen.

Verbrechen der Endphase

Die SS setzte bereits seit Längerem Juden für sogenannte Himmelfahrtkommandos ein. Deren Aufgabe war es die Spuren der Mörder zu vernichten, indem sie die Leichen aus den zugeschütteten Massengräbern ausgruben und verbrannten. Nach getaner Arbeit wurden sie ebenfalls erschossen.

Die verbliebenen jüdischen Häftlinge im baltischen Raum sollten unter keinen Umständen von der annähernden Sowjet-Armee entdeckt werden, so wurden sie ins nächstgelegene Konzentrationslager, Stutthof bei Danzig, deportiert. Da dieses Lager bereits mehr als überfüllt war, wurden viele Häftlinge auch nach im Reichsgebiet liegende Konzentrationslager wie Dachau oder Neuengamme deportiert.

Mit Herrannahen der Front kam es zur Räumung der Lager. Die Häftlinge mussten in Marschblöcken von bis zu 1000 durch die Straßen marschieren. Die Sterblichkeitsrate während dieser Todesmärsche war sehr hoch.  Von den ungefähr 25.000 Juden, die aus dem Großdeutschen Reich nach Riga deportiert wurden, überlebten nur 1000.

Statistik der Transporte

Die folgende Statistik stammt aus Wolfgang Scheffler und Diana Schulle, Buch der Erinnerung. Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden., München: De Gruyter, 2003:

Datum Ausgangsort Personen Ankunftsdatum Überlebende Bemerkung
27.11.1941
Berlin 1053 30.11.1941 0 Nach Ankunft im Wald von Rumbula ermordet
29.11.1941 Nürnberg 1008 02.12.1941 52 Im Lager Jungfernhof interniert
01.12.1941 Stuttgart 1013 04.12.1941 43 Im Lager Jungfernhof interniert
03.12.1941 Wien 1001 06.12.1941 18 Im Lager Jungfernhof interniert
06.12.1941 Hamburg 964 09.12.1941 35 Im Lager Jungfernhof interniert
07.12.1941 Köln 1011 10.12.1941 87
09.12.1941 Kassel 1034 12.12.1941 100
11.12.1941 Düsseldorf 1007 13.12.1941 98
13.12.1941 Münster – Osnabrück – Bielefeld 1031 16.12.1941 102
15.12.1941 Hannover 1001 18.12.1941 68
09.01.1942 Theresienstadt 1005 12.01.1942 110
11.01.1942 Wien 1000 15.01.1942 31
13.01.1942 Berlin 1034 16.01.1942 15
15.01.1942 Theresienstadt 997 19.01.1942 18
19.01.1942 Berlin 1002 23.01.1942 19
21.01.1942 Leipzig – Dresden 773 24.01.1942 47
25.01.1942 Berlin 1044 30.01.1942 13
26.01.1942 Wien 1201 31.01.1942 36
27.01.1942 Gelsenkirchen – Dortmund 938 01.02.1942 121
06.02.1942 Wien 1003 10.02.1942 36
15.08.1942 Berlin 938 18.08.1942 1
20.08.1942 Theresienstadt 1000 Nicht bekannt 0
31.08.1942 Berlin – Insterburg 797 03.09.1942 6 Bis auf ca. 80 Männer wurden alle nach der Ankunft ermordet
19.10.1942 Berlin 959 22.10.1942 17 Bis auf 81 Männer wurden alle nach der Ankunft ermordet
26.10.1942 Berlin 798 29.10.1942 0 Alle wurden nach der Ankunft ermordet
  Gesamt 24612 1073 Weniger als 4% überlebten